Interviews

Jan Wilm im Gespräch mit Isabelle Lehn

Die Autorin Isabelle Lehn hat mit »Frühlingserwachen« einen autofiktionalen Roman geschrieben, der sich zärtlich wie ironisch dem eigenen Leben, dem eigenen Körper, dem eigenen Schreiben nähert. In einem autofiktionalen Text über autofiktionale Texte in der aktuellen Ausgabe von VOLLTEXT schreibt der Autor Jan Wilm über »Frühlingserwachen« als »eine Literatur von Schmerz und Scham und Verletzung und Verlorenheit (…), aus deren Erfahrung sich immer Hoffnung ergab, Hoffnung in Form von Sprache, von Literatur.« Für seinen Text führte Wilm ein Gespräch mit Isabelle Lehn, das nur hier nun in Gänze erscheint.

Jan Wilm und Isabelle Lehn im Gespräch
© © Alexander Paul Englert / A. Sophron

Wenn es für Dich in Ordnung wäre, würde ich sehr gerne etwas über die Entstehungsimpulse für das Projekt erfahren. Gab es einen Moment, in dem eine Entscheidung für ein autofiktionales Schreiben stattfand, oder entstand Frühlingserwachen organischer und gegebenenfalls als Antwort auf Lektüre-Erlebnisse (Woolf, Leduc, Heti, Knausgård etc.)?
Die ersten Bruchstücke von »Frühlingserwachen« sind eher beiläufig entstanden, nicht in dem Bewusstsein, damit den Grundstein für ein neues Romanprojekt zu legen. Eigentlich schwebte mir ein völlig anderes Thema für meinen zweiten Roman vor. Während ich dazu recherchierte und nach einem literarischen Zugang suchte, schrieb ich die ersten Passagen von »Frühlingserwachen«. Dieses erste Schreiben war noch sehr privat und für mich eher eine Gelegenheit zur Meditation über Themen und Fragestellungen, die damals in meinem Leben, meinem Umfeld oder in gesellschaftlichen Debatten eine Rolle spielten. Aber eben nicht in Form von Tagebucheinträgen, sondern mit den Möglichkeiten des literarischen Formenspiels und den Freiheiten des Blickwechsels, die sich aus der Fiktion ergeben. Das Schreiben in dieser halb fiktionalen und halb autobiographischen Form hat sich unweigerlich ergeben und sicherlich auch eine kathartische Funktion gehabt: Ich habe mir als »Isabelle Lehn« in diesem Text größere Freiheiten zugestanden als im wirklichen Leben, mir mehr Direktheit gegenüber mir selbst und anderen erlaubt und Gefühle wie Wut, Verzweiflung oder Verachtung intensiver ausagiert, als es die Autorin Isabelle Lehn tun würde. Die Figur ist daher vielleicht ehrlicher als ich, was ihre Ansprüche und Ausbrüche, ihrer Leidenschaft und Leidensbereitschaft betrifft. Sie ist eine ausgedehnte Form meiner selbst, mit der ich gefahrlos Grenzen überschreiten, in Abgründe blicken und zurückgehaltene Anteile erkunden konnte. Von dieser Versuchsanordnung ging natürlich eine große Schreibenergie aus, die ich irgendwann nicht mehr ignorieren oder als »Nebenprojekt« behandeln konnte. Der damit verbundene Gedanke an eine Veröffentlichung war einerseits beängstigend, andererseits aber auch sehr reizvoll: Ich wollte nicht nur herausfinden, wie weit ich mit der Figur »Isabelle Lehn« gehen kann, sondern auch, wo die Grenzen der Autorin liegen und was zu schreiben und veröffentlichen ich mir zugestehe.

Auf S. 48 heißt es: »Meine Agentin mag den neuen Roman. Wir sagen jetzt Roman, damit es nach etwas klingt – außerdem braucht dieser Text ein Fiktionssignal.« Welche Bedeutung haben für Dich Genrebezeichnungen wie »Roman«, »Autobiografie« und auch »Autofiktion«? Sind Sie hilfreich/hinderlich – und hatten/haben Sie Bedeutung für Dich beim Schreiben?
Dieses Zitat ist ein Beispiel für das Spiel mit Fiktionen in »Frühlingserwachen«: Meine Agentin und ich haben nie über eine Gattungsbezeichnung gesprochen. Auch meine Lektorin hat nie (wie im Buch dargestellt) darauf gedrängt, den Text als »Roman« zu vermarkten, auch wenn einige Leser (siehe Amazonrezension) Verkaufsstrategien hinter dieser Bezeichnung vermutet haben. Dabei war diese Festlegung vor allem mir selbst wichtig: Ich habe den Text von Anfang an als (auto-)fiktional verstanden, da ich große Differenzen zwischen der Figur und der Autorin sehe und auch bewusst gestaltet habe. Wir teilen zwar viele Erlebnisse und Erfahrungen, aber wir bewerten sie unterschiedlich, sprechen anders darüber, setzen unserem Handeln andere Grenzen. Anteile der Figur Isabelle Lehn sind zudem aus fremden Biographien entlehnt, während manche meiner eigenen Eigenschaften im Roman in die Gestaltung fremder Charaktere eingeflossen sind. Jeder Charakter in diesem Text ist damit eine Collage aus fiktionalen, biographischen und autobiographischen Anteilen und nicht nur einer realen Person zuzuordnen. Zumal die Sprache für mich beim Schreiben immer das letzte Wort hat und oft der Rhythmus darüber entscheidet, wovon ein Satz letztlich spricht. So bewirkt die Ästhetisierung unmittelbar eine Verfremdung des Materials – selbst wenn ich nonfiktionale Stoffe einwebe. Und nicht zuletzt habe ich der Textlogik, dem Charakter der Figur, dramaturgischen und narrativen Überlegungen immer den Vorrang gegenüber der Empirie des Materials gegeben. Das tatsächlich Erlebte stand also immer hinter den Bedürfnissen des Textes, der Sprache und der Charaktere zurück. Für mich war es daher nur konsequent, das Ergebnis als »Roman« zu bezeichnen. Und natürlich war es mir auch wichtig, diesen fiktionalen Anteil für den Leser zu markieren und die Autorin Isabelle Lehn vor falschen Schlüssen und Identifizierungen zu schützen.

Eines der für mich zentralsten Motive des Buches ist die Verklammerung von Körper und Schreiben. Was hältst Du von Ideen, die das Schreiben als einen körperlichen Akt betrachten und besonders das autofiktionale Schreiben als ein mit Körperlichkeit verbundenes Genre?
Für mich ist das Schreiben immer ein absolut körperlicher Akt. Ich kann Körper und Geist nicht getrennt verstehen oder wahrnehmen – auch davon handelt dieses Buch. Der Rhythmus der Sprache, das Tempo, die Stimme im Kopf, die die Sätze diktiert: All das hängt ab von einer körperlichen Verfassung, Zuständen der Ruhe und Unruhe, Gereizt- oder Gelöstheit, Erschöpfung, Müdigkeit, Energiezuständen, die am Abend völlig andere Texte als noch am Morgen hervorbringen können und auf dem Sofa weniger aufrechte Texte entstehen lassen als am Schreibtisch. Natürlich kann der Einfluss des Körpers auf das Schreiben und Denken auch eine störende Wirkung haben, wenn körperliche Zustände wie Hunger oder Müdigkeit in den Vordergrund treten. Das hat ganz banale, aber weitreichende Folgen: Der Stoffwechsel entscheidet u.a. über die Schreibzeiten. Und wir alle kennen die Beobachtung, dass Schmerzen oder ein unangenehmes Körpergefühl die Konzentration beeinträchtigen. Insofern empfindet auch die Figur Isabelle ihren Körper als Last und Widerspruch zum Schreiben, wenn er zu viel Aufmerksamkeit beansprucht und die Ruhigstellung des Körpers zu viel Energie erfordert, die sie lieber für Schreib- und Denkprozesse aufwenden würde.
Der vorigen Frage folgend: Einerseits scheint mir ein Konflikt (oder auch eine Zerrissenheit) zwischen Körper und Ich vorzuliegen (z.B. 95, 134), und (damit verbunden?) der Wunsch, diesen Konflikt zu befrieden. Ist er durchs Schreiben zu befrieden? Ist er zu lösen durch ein Schreiben über das Ich?
Vielleicht könnte man sagen: Das Schreiben überwindet das Ich, wenn das Schreiben gelingt. Die Konzentration, die gelingendes Schreiben bedeutet, ermöglicht eine Gelöstheit von körperlichen Zuständen, wie sie sonst vielleicht nur durch Meditation zu erzielen ist. Sobald der Körper allerdings wieder Aufmerksamkeit einfordert, misslingt das Schreiben (s.o.). Die Abwesenheit des Körpers im Bewusstsein, die physische Selbstvergessenheit ist daher Bedingung und Resultat des gelingenden Schreibens. Vielleicht ist für Isabelle Lehn als Figur, aber auch als Autorin das Schreiben deshalb so wichtig: Als Form der Entleibung, als Möglichkeit, sich selbst zu entkommen, andere Zustände und fremde Perspektiven einzunehmen – bei der gleichzeitigen Möglichkeit, jederzeit in den eigenen Körper zurückzukehren.

Die Sprache des Romans ist nachdenklich und witzig zugleich, ein schönes Schwingen zwischen berührender Nähe und ironischer Distanz; immer ist Deine Sprache von einer klugen Klarheit. Vielleicht weil es die leise Kafka-Referenz gibt auf S. 33 (»mit der Axt schreiben«), vielleicht steht deshalb die Form des Romans, auch durch die kürzeren und kurzen Abschnitte, in Verbindung mit der Kafka’schen (und Deleuze’schen/Guattari’schen) Idee einer kleinen Literatur. Ich möchte keinesfalls die weiblichen und feministischen Aspekte, oder auch die formellen Entscheidungen über Struktur und Tonwechsel des Textes, per se als einer kleinen Literatur zugehörig nennen, da eine solche Setzung Hierarchien errichtet (männlich-weiblich, aber auch mainstream-avantgarde), die ich ablehne. Und doch interessiert mich die Frage, ob Dein(e) Schreibverfahren und vielleicht Deine Poetik(en) verwandt sind mit der Idee einer kleinen Literatur, die das Anerkannte und Wohletablierte hinter sich lässt?
Ganz genau, dieser Roman ist in gewisser Weise eine Mikrostudie, eine ausschnitthafte »Live Observation« ihres mitunter recht banalen Lebens. Ganz ähnlich, wie die Figur Isabelle für verhaltenswissenschaftliche Studien Primaten im Zoo bei ihren alltäglichen Interaktionen filmt, wird der Blick des Romans für eine Dauer von zwei Jahren auf sie gerichtet, wie sie durch das Gehege ihres Lebens turnt. Erzählt wird in Form von Momentaufnahmen, Detailbeobachtungen, Erinnerungen, Assoziationen und Reflexionen. Ein punktuelles Prinzip, kleine Formen. Interessant wird es allerdings, wenn man die einzelnen Punkte verbindet, die Passagen in einen Zusammenhang setzt: Welche Strukturen werden sichtbar? Welches Bild ergibt sich? Und wie alters- und geschlechtstypisch ist dieses Bild? Ich habe viele Rückmeldungen von Leserinnen und Lesern bekommen, die sich in diesem Roman wiedererkannt haben. Ich glaube also unbedingt an eine Verbindung von Individuellem und Politischem, wie Deleuze und Guattari sie als Merkmal einer kleinen Literatur hervorheben. Vor allem aber halte ich eine »Kleine Literatur« für die einzig angemessene literarische Form zur Darstellung kontingenter Lebenserfahrungen. Eine Figur, die in ihrem Leben keine große Erzählung, keine Heldenreise und keinen übergeordneten Sinnzusammenhang erkennt, wird auch nicht ungebrochen davon erzählen können. Isabelle Lehn ist keine souveräne Erzählerin ihres Lebens, sagt diese Form. Sie kann ihre Gegenwart nur in Einzelheiten bewältigen und durchdringen. Insofern ist auch die Erzählung im Präsens natürlich kein Zufall für eine Figur, die aufgrund ihrer Lebenssituation wenig planen und kaum vorausschauend handeln kann.

 

Zuletzt: Ich bin immer bewegt von den Erzählungen und Reflexionen um Scham, die Überwindung von Scham und eine Feier des Scheiterns in Frühlingserwachen. Ist Schreiben eine Überwindung von Scham, ist es eine Feier des Scheiterns?
Die Überwindung der Scham ist vielleicht die größte Differenz zwischen Isabelle und Isabelle, und gleichzeitig die wichtigste Funktion, die diese Figur für mich hat. Ich nehme sie mir als Vorbild in ihrer Schamlosigkeit, die natürlich auch eine Trotzreaktion auf eine Beschränkung ihrer Freiheit ist: Es gibt für sie Grenzen des Sagbaren, Ideale von Weiblichkeit, mit denen sie sich nicht abfinden will. Isabelle beansprucht Wut anstelle von Scham, das wütende Schreiben, das Schreiben mit der Axt, das den Engel im Hause tötet und das gefrorene Meer zerschlägt, ein leidenschaftliches Schreiben, das freier ist, als das Schreiben innerhalb der Grenzen der Scham.
Diese Grenzen zu zerschlagen ist für sie auch ein emanzipatorischer Akt. Isabelle verweigert sich damit einem Bild von Weiblichkeit, das für sie vorgesehen ist, denn eigentlich ist Wut ein männliches Privileg, während eine wütende, schamlose Frau immer noch Aufsehen erregt – auch das habe ich durch die Reaktionen auf meinen Roman erfahren. Es gibt einen Essay der Historikerin Ute Frevert zu »Zorn und Ehre«, der sich mit Wut und Scham aus geschlechterhistorischer Perspektive auseinandersetzt: Während die Wut, wie Männer sie in der bürgerlichen Gesellschaft ausagieren können, einen aktiven Umgang mit Schamgefühlen erlaubt, bleiben die Schamgefühle der Frau ein individuelles, ohnmächtiges und letztlich sehr einsames Gefühl. Isabelles Schamlosigkeit ist also auch eine Rebellion gegen verordnetes Schweigen und die Vereinzelung weiblicher Biographien und ihrer Brüche. Um sich darüber auszutauschen und entlastende Gemeinsamkeiten zu erkennen, braucht sie das Schreiben, das ebenfalls lange Zeit ein männliches Privileg war. Die Überwindung der Scham, sich zu entäußern, galt für Frauen lange als Tabu – schamlos eben. Virginia Woolf versteht es daher als erste Aufgabe der Schriftstellerin, die konventionellen Grenzen der Weiblichkeit zu überwinden und »den Engel im Hause« töten, sprich, die erlernte Scham ihrer Geschlechterrolle abzulegen. Erst dann ist die Schriftstellerin frei genug, um wahrhaftig zu schreiben. Schamlosigkeit ist für mich also eher eine Voraussetzung für wahrhaftiges Schreiben als ihr Resultat.

 

Zur VOLLTEXT-Ausgabe.
Zu Jan Wilms aktuellem Roman 
Winterjahrbuch (Schöffling & Co., 2019).
Zu Jan Wilms Website.

Isabelle Lehn, geboren 1979 in Bonn, lebt heute in Leipzig und schreibt erzählende und essayistische Prosa. Sie ist promovierte Rhetorikerin, Autorin des mehrfach ausgezeichneten Debütromans »Binde zwei Vögel zusammen« und zuletzt des Romans »Frühlingserwachen«. Für ihre literarische Arbeit erhielt sie zahlreiche Preise und Stipendien, zuletzt den Dietrich-Oppenberg-Medienpreis für ihren Aufsatz »Weibliches Schreiben« (S. ...

Zur Autorin